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Pierre Schaeffer und Pierre Henry
Musique concrète

erstellt am: 23.08.2019 | von: englich | Kategorie(n): Recherchen / Neue Musik / Neue Töne

 

 

Pierre Schaeffer
(* 14. August 1910 in Nancy; † 19. August 1995 in Aix-en-Provence) war ein französischer Komponist und Schriftsteller. Verbunden mit der Kritik, die abendländische Musik verschließe sich mit der Beschränkung auf traditionelle Musikinstrumente und der daraus resultierenden Beschränkung auf festgelegte Tonhöhen einer wichtigen Sphäre, entwickelte Schaeffer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue musikalische Praxis. Durch die Arbeit mit Tonbändern konnte auf eine traditionelle Notation verzichtet werden. Damit hinterfragte Schaeffer nicht nur das traditionelle Instrumentarium, sondern löste gleichzeitig auch das Verhältnis zwischen Komponist und Interpret auf.

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Schaeffer, der eigentlich Ingenieur war, beim französischen Rundfunk. Dort experimentierte er mit Alltagsgeräuschen, die er zunächst auf Schallplatte, ab 1951 auch auf Tonband aufnahm, verfremdete und zu neuen Klangkompositionen montierte. Die Mittel der Verfremdung beschränkten sich auf die Wiedergabegeschwindigkeit und -richtung. Außerdem entwickelte er eine Möglichkeit, kurze Abschnitte einer Schallplatte als Schleife wiederzugeben.

 

 

Pierre Schaeffer
Etude aux chemins de fer (1948)

Fast 50 Jahre bevor DJ Shadow’s „Endtroducing” als erstes Album gefeiert wurde, das ausschließlich aus Samples bestand, stellte sich ein französischer Sender eine Musik vor, die ausschließlich aus zuvor aufgenommenen Loops bestand.

Sampling, ja sogar bis zu einem gewissen Grad Turntablismus, lässt sich auf die Aufnahmeexperimente von Pierre Schaeffer zurückführen. Als Ingenieur, Schriftsteller, Komponist, Philosoph, Musikwissenschaftler, Pädagoge und Akustiker ist Schaeffer eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der modernen Musik, bekannt für die Pionierarbeit bei einer radikalen Innovation in der Musik des 20. Jahrhunderts. Die dabei entstandene experimentelle Musik nannte er Musique concrète (Konkrete Musik). Sie hatte großen Einfluss auf die Elektronische Musik und das Hörspiel.

 

 

Pierre Schaeffer
Etude pathétique (1948)

Etude pathétique‘ ist die letzte und vollendete Folge in Schaeffers erster Sammlung von musique concrète Stücken, Cinq études de bruits (Five Studies of Noises). In der Nacht vor der Abreise zu einer Geschäftsreise und frustriert über seinen mangelnden Fortschritt entschied sich Schaeffer, noch eine letzte Studio-Session zu starten. Während dieser letzten Session fand er im Studio eine Platte mit einem Monolog des französischen Schauspielers Sacha Guitry; die Aufnahme war insofern einzigartig, als sie ab und zu durch den nagenden Husten des Skriptleiters der Aufnahmesession unterbrochen wurde. Mit diesem Rohstoff in der Hand entschied sich Schaeffer, seine musique concrète Techniken auf die menschliche Stimme anzuwenden.

Die daraus resultierende Montage ist gespenstisch: ein zersplitterter Anruf zwischen den Linien von Guitry („On your lips, on your lips“) und dem kehligen Husten, unterstützt von einer geisterhaften Klanglandschaft aus Akkordeon- und Mundharmonikafragmenten, Ausschnitten balinesischer Musik, echorierendem Klavier, dem Tuckern von Kanalbooten und dem Klang von drehenden Blechdosen, die das Stück öffnen und schließen. Wie er sagt, dauerte es nur wenige Minuten, bis Schaeffer fertig war, aber er erkannte sofort, dass es das beste seiner frühen Werke war. Etude pathétique‘ war eines der ersten Musikstücke, das die verführerische und formbare Qualität der gesampelten menschlichen Stimme enthüllte.

 

Pierre hoch zwei: Pierre Schaeffer und Pierre Henry

 

Der wichtigste Moment in Schaeffers Karriere kam 1949, als er Pierre Henry traf, einen klassisch ausgebildeten Komponisten, mit dem er die Groupe de Recherche de Musique Concrète (GRMC, später GRM) gründete, das erste Studio, das speziell für elektroakustische Musik konzipiert wurde.

 

 

In den nächsten 10 Jahren würden die beiden Komponisten das Gesicht der Musik für immer verändern. Neben ihren unzähligen ästhetischen Innovationen erzielten sie viele technische Erfolge, indem sie den Einsatz von Magnetband durch Spleißen und Schleifen bahnten und mehrere neue Erfindungen einführten: ein dreispuriges Tonbandgerät, eine 10-Kopf-Verzögerungs- und Schleifenmaschine (das Morphophon), ein tastaturgesteuertes Gerät, das Schleifen mit verschiedenen Geschwindigkeiten wiedergeben kann (das Phonogen), und mehrere Verstärkungssysteme, die für räumliche Klangexperimente verwendet werden.

 

 

Hommage á Pierre Henry
Arte

Pierre Henry (* 9. Dezember 1927 in Paris; † 5. Juli 2017 ebenda) war ein zeitgenössischer französischer Komponist. Er gilt als Wegbereiter der elektronischen Musik und der Musique concrète.

 

Ballet de Maurice Béjart 

 

 

Pierre Schaeffer und Pierre Henry
Symphonie Pour un Homme Seul (1949/50)

Der einsame Mensch sollte seine Symphonie in sich selbst finden, nicht nur, indem er die Musik abstrakt konzipiert, sondern auch, indem er sein eigenes Instrument ist. Ein einsamer Mensch besitzt wesentlich mehr als die zwölf Töne der abgegebenen Stimme. Er weint, er pfeift, er geht, er schlägt mit der Faust, er lacht, er stöhnt. Sein Herz schlägt, seine Atmung beschleunigt sich, er sagt Worte, gibt Rufe ab und andere Rufe antworten auf ihn. Nichts klingt wie ein einsamer Schrei, als das Geschrei der Menschenmassen.

Zwischen 1949 und 1958 wirkte Henry am Club d’Essai-Studio des RTF, das von Pierre Schaeffer begründet worden war. In den Jahren 1949–1950 komponierte Henry zusammen mit Schaeffer die Symphonie pour un homme seul. Die Uraufführung am 18. März 1950 erregte Aufsehen, weil Henry zusammen mit Pierre Schaeffer und Jacques Poulin in der Pariser École Normale de Musique de Paris ein Werk ohne Partitur vorstellte, das elektronisch mithilfe von Schallplatten übertragen wurde und nur aus Klangcollagen bestand. Dieser Tag gilt als die Geburtsstunde der Musique concrète.

 

 

Pierre Schaeffer und Pierre Henry
Orphée 53 (1953)

Als Schaeffer und Henrys Orphée 53, die erste musique concrète Oper, im Oktober 1953 bei den Donaueschinger Festspielen uraufgeführt wurde, verärgerte und verwirrte sie die Hörer gleichermaßen. Sie bewirkte eine Vertiefung der ideologischen Kluft zwischen musique concrète und elektronischer Musik. Basierend auf Christoph Glucks Oper Orpheus und Euridice ist Orphée 53 eine höchst visuelle und kompromisslos surreale Meisterleistung, die nach wie vor zu den Highlights des Genres gehört.

Zusammengesetzt aus monströsem Brüllen, knirschendem Cembalo, Donner, Motorknurren, schwärmenden Bienen, sinnlichem Sprechen und Gott weiß, was sonst noch so allem, entzieht sich Orphée 53 der musikalischen Verspieltheit und dem Humor von musique concrète zugunsten großer, ätherischer Landschaften und unbequemer Klanggestaltung. Vor allem aber festigte die Orphée 53 die kulturelle Wirkung der musique concrète und sorgte dafür, dass kein Diskurs über die Geschichte der Avantgarde vollständig sein wird, ohne die anspruchsvolle neue Kunstform von Schaeffer und Henry zu erwähnen.

Im Jahr 1958 verließ Pierre Henry das RTF und gründete 1960 zusammen mit Jean Baronnet das erste private elektronische Studio Frankreichs.

 

 

Pierre Henry
Messe pour le temps présent (1967)

Henry komponierte seit 1952 neben Ballett- auch Filmmusik. Er arbeitete unter anderem mit den Choreographen Maurice Béjart und Alwin Nikolais zusammen. Sein erfolgreichstes Werk ist die „Messe pour le temps présent” aus dem Jahr 1967. Mit Psyché Rock aus dieser Messe wandte er sich erstmals auch der Rockmusik zu; dieses Lied wurde Ende der Siebziger Jahre von Roger Handt in der Hörfunksendung Radiothek als Vorspann der Reihe „Questionmark“ verwendet und in einer bearbeiteten Version ab 1999 zum Titelsong der Serie Futurama. In Ceremony aus dem Jahre 1969 arbeitete er mit der Gruppe Spooky Tooth zusammen, wobei er die Aufnahmen der Band nachträglich stark verfremdete.

Pierre Henry beeinflusste nicht nur die Neue Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern er gilt neben Karlheinz Stockhausen auch als einer der „Väter“ des Techno.

 

Pierre Henry und die Kunst des Klangs (2007)

 

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